
Seitdem ich das Buch Russendisko gelesen habe, zähle ich zur Fangemeinde von Wladimir Kaminer. Sein trockener, eigenwilliger Humor, sein unverstellter Blick und sein Geschick, Gesellschaftskritik mit intelligentem Witz zu tarnen, zeichnen die Geschichten des Exilrussens und Bestsellerautors aus. Seine Bücher habe ich mit Spaß gelesen, verliehen und in der Regel nicht wieder zurückbekommen. Mehr loben geht nicht.
Jetzt also ein Buch über Kreuzfahrer. Kaminer hatte mehrmals die Gelegenheit, kostenlos an Kreuzfahrten teilzunehmen. Als Gegenleistung unterhielt er die Kreuzfahrtgäste mit Lesungen. Seine Erlebnisse auf diesen Kreuzfahrt-Lesereisen hat er nun in „Die Kreuzfahrer“ literarische verwertet.
Entstanden ist ein Erzählband mit amüsanten Anekdoten, klugen Beobachtungen und Gedankenspielen.
Das Buch gliedert sich in vier Reisen: Eine Transatlantik-Kreuzfahrt mit der Queen of the Seas und drei Aidafahrten auf dem Mittelmeer, der Ostsee und durch die Karibik.
Über den Atlantik mit 5000 vergnügten Amerikanern
Kaminer ist kein PR-Autor. Den Ozeanriesen Queen of the Seas beschreibt Kaminer als gigantischen, hektischen und lauten Shoppingtempel. Sein Wording ist eindeutig. Er spricht von konsumistischer Aufbruchstimmung, hartem amerikanischen Kapitalismus und aggressiven Verkaufsstrategien.
Die Lebens- und Arbeitswelt der Crew erlebt Kaminer als bedrückend. Er beschreibt das Schiff als „Eisberg mit einem sichtbaren Teil an Attraktionen und Belustigungen aller Art und dem dunklen Teil der unzähligen unteren Etagen.“
Auf der Tansatlantik-Reise von Barcelona nach Miami sind vor allem Amerikaner unterwegs. Kaminer lässt an seinen US-Mitreisenden kein gutes Haar. Sie sind laut, übergewichtig, stets auf Shoppingtour und dabei auf eine anstrengende und für den Autor unverständliche Art gut gelaunt.
Da fragt sich der Leser, ob Kaminer jemals wieder eine Einladung auf die Queen of the Seas erhalten wird. Wohl kaum. Nicht nur wegen der wenig schmeichelhaften Auslassungen, sondern weil das Schiff mit dem Namen Queen of the Seas wohl gar nicht existiert. Obwohl ein entsprechender Hinweis im Buch fehlt, komme ich zu dem Schluss, dass der Schiffsnamen frei erfunden ist. Vielleicht ist die Freedom of the Seas, die Oasis of the Seas oder die Harmony of the Seas – sicherlich nicht die sehr britische Queen Mary – gemeint.
Die Aida ist wie eine schwimmende Kneipe
Die Aida-Flotte kommt in „Die Kreuzfahrer“ deutlich besser weg. Auch wenn der Leser nicht erfährt, um welches Aida-Schiff, es sich bei den einzelnen Reisen handelt.
Auf der Aida treffen wir den Autor vor allem an der Bar. So schreibt er über seine Mittelmeerreise:
„Wenn die amerikanische Queen am ehesten einer schwimmenden Kaufhalle ähnelte, so glich unsere AIDA einer schwimmenden Kneipe. Ihre Gäste – die meisten davon Stammgäste auf dem Schiff – hatten schon längst jede Lust aufs Festland verloren (…) Manche wurden von den Unterhaltungsoffizieren buchstäblich von Bord geschubst.“

Zweimal Schokolade & Putin
Auch Kaminer und seine Frau Olga, die ihn stets auf seinen Reisen begleitet, zählen zur Spezie Ausflugsmuffel. Touristische Sehenswürdigkeiten, Denkmäler, Kathedralen und geführte Stadtrundfahrten sind für die beiden nur von geringem Interesse. Also kein Reiseführer! Selbst für St. Petersburg entwickelt Kaminer keine Heimatgefühle. Er verlässt zwar das Schiff, bewegt sich aber nur zwischen den Andenkenshops im Transitbereich. Im Angebot sind neben Pelzwaren und Matroschkas made in China, Tafelschokolade, die zwar nicht schmeckt, aber mit einem Bild von Putin versehen ist.
Dieser Kombination Schokolade und Putin begegnet Kaminer noch ein weiteres Mal, nämlich während seiner Karibikreise. Auf der Insel Grenade möchte der Autor nicht nur Muskatnüsse und andere Gewürze, sondern auch Schokolade kaufen, denn überall auf der Insel wachsen Kakaobäume. Doch dieser Einkauf erweist als schwierig. In den Läden gibt es nur abgepackte Schokoriegel und Schokosnack aus den USA. Weit und breit keine Tafelschokolade aus Grenada. Erst auf dem Markt wird Kaminer fündig und von einem Wasserverkäufer als Russe erkannt und sofort auf Putin angesprochen. Kaminer outet sich in einfachem Englisch als Nicht-Putin-Fan. Gerne hätte er explizit und differenziert seine Kritik am russischen Staatschef geäußert, aber es bleibt bei „Not so nice man“.
Die Geschichte hat noch eine weitere Pointe: Wieder zurück auf dem Kreuzfahrtschiff, erfährt der Autor von einem Mitreisenden, dass sämtliche Kakaoplantagen auf der Insel einem einzigen reichen Russen – die Eingeborenen tippen auf Putin – gehören würden.
Kreuzfahrt oder Kreuzzug
Der Buchtitel „Die Kreuzfahrer“ ist sicherlich nicht ohne Hintergedanken gewählt. Die Bezeichnung Kreuzfahrer hat bekanntlich eine doppelte Bedeutung: Gemeint sind sowohl Urlauber auf einem Kreuzfahrtschiff, als auch Teilnehmer eines Kreuzzuges, also Eindringlinge und Besatzer. Das passt, denn das Buch ist ambivalent. Auf der einen Seite Reisespaß pur: Menschen und Mentalitäten kennen lernen, viel trinken, Wissen und Horizont erweitern, wieder viel trinken, reflektieren und Eindrücke verarbeiten. Doch schon auf der nächsten Buchseite thematisiert Kaminer die Schattenseiten des Kreuzfahrt-Tourismus. Ein Beispiel ist die Beschreibung einer Strandszene auf der Karibikinsel St. Lucia. Auf eigene Faust besuchen der Autor und eine kleine Reisegruppe einen abgelegenen Strand. Dieser Strandabschnitt ist ungepflegt und wird nur von Einheimischen genutzt. Kaminer ist fasziniert und fühlt sich zugleich fehl am Platz. Er schreibt: „Wir, die Kreuzfahrer, gehörten nicht hierher. Wir sollten auf der anderen Seite der Insel liegen, unter Sonnenschirmen und mit Cocktails in der Hand und nicht mit den Einheimischen unter dem Ficus. Wir waren nicht ihre Mitmenschen, sondern ihre Arbeit.“
„Die Kreuzfahrer“ als Buch, Hörbuch oder Lesung
Der Erzählband „Die Kreuzfahrer“ ist als Hardcover und Taschenbuch erhältlich. Die mir vorliegende gebunden Fassung wurde vom Verlag Wunderraum mit einem grafisch gelungenen Cover, Lesebändchen und Liebe zum Detail gestaltet. Als sehr ansprechend und lesefreundlich empfinde ich die Typografie mit Überschriften in Schreibschrift. Kein Wunder, dass uns das gefällt. Sieht ja auch aus wie unsere Webseite dieschiffsreise.de .
Wer die Texte aus dem Munde des Autors hören möchte, dem sei das Hörbuch aus dem Verlag Random House empfohlen. Eine Hörprobe finden Sie am Ende des Beitrags (Youtube-Video). Wer Kaminer am liebsten live auf der Bühne erleben möchte, hat dazu reichlich Gelegenheit. Er ist ein ganzes Jahr lang mit seinem Buch „Die Kreuzfahrer“ auf Lesetour. Termine und Tickets.
Links
Homepage Wladimir Kaminer http://www.wladimirkaminer.de/
Russendisko http://www.russendisko.de/
Leseprobe „Die Kreuzfahrer“, Bücher.de
Buchbestellung „Die Kreuzfahrer“, Bücher.de
Hörbuchbestellung „Die Kreuzfahrer“, Bücher.de
MP3 Download „Die Kreuzfahrer“ und Hörprobe, Bücher.de