Rezension: Offene See von Benjamin Myers

Offene See von Benjamin Myers

Der Autor Benjamin Myers ist in Deutschland kaum bekannt. Seine Romane und Kurzgeschichten wurden bisher nur auf Englisch veröffentlicht. Sein neuer Roman „Offene See“ erschien nun auch in deutscher Sprache, bei Dumont in eine einfühlsamen Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Auf Englisch lautet der Buchtitel „The Offing“ also „Das Angebot“.  Mehrdeutiger und meines Erachtens passender ist der gut gewählte deutsche Titel „Offene See“.  In einem Haus am Meer kommen die Protagonisten des Romans Robert und Dulcie zusammen. Die „Offene See“ erleben die beiden auf unterschiedliche Weise: für den jungen Mann ist das Meer Sehnsuchtsort und Verlockung, für die ältere Frau eine tödliche Bedrohung.  „Offene See“ erweist sich im Laufe der Romanhandlung zugleich auch als Sinnbild für Grenzenlosigkeit und die Freiheit des Geistes.

Eine schicksalhafte Begegnung

Worum geht es in Myers Roman? Der Inhalt ist schnell erzählt.  Ein alter Schriftsteller erinnert sich und erzählt auf poetische Weise, wie er als junger Mann durch eine schicksalhafte Begegnung den Weg zur Literatur fand. 1946 kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges macht sich der 16-jährige Robert Appleyard auf eine Wanderschaft, die sein Leben verändern wird. Er verlässt den Ort seiner Kindheit, die triste Bergarbeitersiedlung nahe Durham in Nordengland, und wandert entlang der Küste in Richtung Süden. Er will das Meer sehen und noch etwas erleben, bevor er wie seine Vorväter die harte Arbeit unter Tage aufnehmen sollte. Auf seinem Weg lernt er eine außergewöhnliche ältere Frau kennen. Dulcie Piper ist eine kluge, unabhängige und starke Persönlichkeit. Sie bewohnt mit ihrem Hund ein Haus am Meer mit einem großen Garten voller Wildwuchs, Schönheit und einem geheimnisumwobenen Gartenhaus. Durch Dulcie lernt der naturverbundene Robert ein anderes Leben frei von gesellschaftlichen Konventionen und Vorurteilen kennen. Für Robert öffnet sich ein neuer Horizont. Er lernt seinen Fähigkeiten und Talenten zu vertrauen und findet so den Weg zur Literatur, Lyrik und letztlich zu seiner Bestimmung.

Zwischen Poesie und Pathos

Myers‘ Sprache ist bildreich und blumig. Seine Naturbeschreibungen sind geradezu detailversessen. Jede Pflanze, jedes Kraut findet namentliche Erwähnung. Das wirkte auf mich streckenweise aus der Zeit gefallen und gekünstelt. Auch die Figur der Dulcie, eine Mischung aus Intellekt, Weltoffenheit und Sinneslust scheint mir in sich widersprüchlich. Myers entwirft das Bild einer gewandten Frau, die internationale Freundschaften und Kontakte pflegt, ein Automobil ihr eigen nennt, über exquisite und anscheinend unbegrenzte Weinvorräte verfügt und andererseits bodenständig Haus und Garten bestellt und Brennnesseltee propagiert. Bleiben wir beim Brennnesseltee: Myers beschreibt wie der Tee unter Zugabe von frischer Zitrone an Geschmack gewinnt und sich färbt „bis er die rosa Farbe einer Pfingstrose annimmt.“ Ich habe es ausprobiert. In der Tat, der Tee schmeckt mit Zitrone nicht mehr so muffig. Doch keine Rosafärbung! Soweit zur Genauigkeit der Beobachtung.

„Offene See“ hat also den Alltagstest nicht in allen Punkten bestanden. Dafür ist das Buch auch wohl nicht geschrieben. „Offene See“ ist vielmehr die poetische und gelegentlich auch pathetische Beschreibung einer Seelenverwandtschaft, die die Basis bildet für die Befreiung des Romanheldens von selbst auferlegten und gesellschaftlichen Zwängen und seine Entscheidung für einen kreativen und selbstbestimmten Lebensweg.

Das Buch spiegelt ein positives und zuversichtliches Menschenbild – taugt also durchaus als Stimmungsaufheller für dunkle Wintertage und frustrierenden Lockdown-Zeiten.

Bestellhinweis

Offene See ist als gebunden Buchausgabe (20,00 Euro) sowie als Hörbuch, eBook und Download erhältlich. Sie können es online bei Thalia, jpc , Bücher.de, Hugendubel oder Amazon bestellen.